20/10/2016
Deutsche Texte
Václav Klaus: Die heutige Massenmigration
und die Zukunft Europas


Sehr geehrter Herr Sitte-Zöllner, sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung. Vielen Dank für die Gelegenheit Ihre schöne Stadt, die sich nicht weit von unserer Grenze befindet, wieder einmal besuchen zu dürfen.

Hier in Dresden habe ich in der Ära nach dem Fall des Kommunismus mehrmals gesprochen. Ich war auch im engen persönlichen Kontakt mit sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf und Georg Milbradt. Beide habe ich nicht nur hier, sondern auch in Prag vor kurzem, in meinem Institut, getroffen. Gute Kontakte habe ich auch mit dem heutigen Ministerpräsidenten Tillich.

Im Zusammenhang mit meinen Reden in Dresden habe ich zwei besondere Erlebnisse. Das erste, ganz positive Erlebniss war bei meinem Ehrendoktorat an Ihrer Technischen Universität im Jahre 2007. Damals sprach ich über die Ähnlichkeiten und Unterschiede der postkommunistischen Transformation in unseren zwei Nachbarländern[1] und hatte das angenehme Gefühl, dass ich damals mit meiner Kritik der ostdeutschen, von Westdeutschland organisierten Variante der Transformation aus der Seele vieler Anwesenden gesprochen habe. Dass wir in der Tschechischen Republik die Transformation selbst, ohne Bevormundung und Überwachung  von Ausland, organisieren konnten, war für uns ein wichtiger Vorteil.

Hier in Dresden habe ich auch die deutsche Version meines Buches „Blauer Planet in grünen Fesseln“[2] präsentiert. Das, heute schon 10 Jahre alte Buch war ein radikales Pamphlet gegen den klimatischen Alarmismus, der damals kulminierte. Noch nie in meinem Leben habe ich im Ausland eine so starke, durchaus negative Reaktion, wenn nicht einen direkten Wiederstand, erlebt. Alle sächsischen Linken, Grünen und ähnliche „Kameraden in Waffen“ waren dort damals anwesend. In dieser Zeit existierte leider keine AfD, die mir eventuell zur Hilfe gekommen wäre. Heute ist es besser. Hoffentlich.

Das war noch in der Ära vor der Finanz- und Wirtschaftskrise und besonders vor der heutigen Massenmigration, die alles geändert hat. Zu Hause wurde ich in den Medien immer wieder gefragt, warum ich in der letzten Zeit in Deutschland so oft rede. Meine Antwort ist: Deutschland ist – aus meiner Sicht – das heutige Schlachtfeld Europas. Hier in Deutschland, nicht in kleineren Ländern Europas, wird – oder wird nicht – das heutige europäische Dilemma, der heutige Konflikt über die Zukunft Europas gelöst werden. Ich bin nur nicht ganz sicher, ob die Deutschen Ihre heutige Rolle und Verantwortung in aller Breite, Tiefe und Wichtigkeit sehen und ob sie sich damit mit voller Aufmerksamkeit beschäftigen.

Man kann fast, ohne Übertreibung, über einen Krieg in Europa sprechen. Die Schlachtformationen, die an beiden Seiten auftreten, sind gut bekannt: an einer Seite, und das ist meine Seite, steht Freiheit, Demokratie, Souveränität der europäischen Nationalstaaten, Patriotismus, Auslandsreisen und Auslandsaufenthalte statt Migration, Friedrich von Hayek und die Freiburger Schule. Diese Seite ist relativ leise, friedlich, höflich und zur Diskussion bereit.

An der anderen steht politische Korrektheit, Multikulturalismus, Massenmigration, Frau Merkel, die Herren Juncker und Schulz, unfreiwillige und unspontane Unifizierung, Zentralisierung, Harmonisierung und Standardisierung Europas, Kontinentalismus, und – nicht an der letzten Stelle – Kulturmarxismus der Frankfurter Schule. Diese Seite ist autistisch, arrogant, aggressiv und monologisch. Leider hat sie lautere Sprachröhre und die wirkungsvollere Artillerie zur Verfügung.

Diese stilisierte Beschreibung ist von mir keine Karikatur oder Verflachung der heutigen europäischen Situation. So übersichtlich sind die Karten in Europa heute verteilt. Wir sollten nicht zulassen, dass diese Klarheit und Übersichtlichkeit vernebelt werden.

Für uns, für die tschechischen und deutschen Demokraten, bleiben nur die Argumente. Die sind aber zur Zeit nicht einfach zu präsentieren. Die Debatte, die in den Medien und in der Politik stattfindet, ist nicht repräsentativ. Ich stimme völlig mit dem Titel eines Artikels in NZZ vor ungefähr zwei Monaten überein: Denkverbote statt Debatte. Der Autor dieses Artikels spricht sogar über die „Friedhofsruhe“ und über das dominierende „Moralisieren und Tabuieren“. Das freie Denken ist immer mehr unterdrückt. In meiner Lebensgeschichte habe ich es schon mal erlebt. Es war in den kommunistischen Zeiten. Einige von Ihnen hier in Dresden habe bestimmt dieselbe Erfahrung.

Zu unserem Bedauern sehen manche Europäer die Schicksalshaftigkeit und die Dringlichkeit des heutigen historischen Momentes nicht. Sie interpretieren die Situation in Europa anders als die Menschen, die heute Abend da sind und die der gefährliche Name Václav Klaus nicht schreckt.

Ungefähr eine Woche nach dem britischen Referendum war ich an einer internationalen Konferenz in Griechenland. Die Teilnehmer (die typischen Konferenzleute, mehrere von ihnen die bekannten Repräsentanten des europäischen und auch deutschen Establishments) waren nervös, enttäuscht, fast erschrocken. Ihr Kartenhäuschen wurde zerstört. Der Gründer der Konferenz, die es schon mehr als 40 Jahre lang gibt, hat in seiner Schlussrede gesagt: „die zwei Hauptfeinde Europas sind Boris Johnson und Václav Klaus“. Ich wusste nicht, dass gerade wir zwei die Komplizen in einem angeblichen Verbrechen sind. Dieser griechische Mann hat wahrscheinlich vergessen, die AfD zu erwähnen.

Man kann das heutige europäische Thema aus vielen Ecken anschneiden. Vieles hat sich in der letzten Ära geändert. Die traditionelle sozial-ökonomische Debatte ist in Europa passé. Die Sozialisten, die heute schon in allen Parteien zerstreut sind, haben diese Debatte gewonnen. Auch der Streit über die so genannte globale Erwärmung ist in Europa tot. Trotz der „Klimapause“ (seit 18 Jahre gibt es keine Erhöhung der globalen Temperaturen) haben die Klimaalarmisten gewonnen.

Es ist aber kein Ende der Geschichte. In den letzten Jahren ist ein neues, noch gefährlicheres Thema aufgetaucht: die durchgehende Umgestaltung der europäischen Gesellschaft, vielleicht besser gesagt, die Liquidierung der europäischen Kultur, Traditionen und Werte, und die dafür als Instrument benützte Massenmigration. Vor ein paar Tagen habe ich einen, schon 26 Jahre alten Essai von Umberto Eco gefunden. Er unterschied schon damals Migration von Immigration (was auch mein lange Zeit benutzte Argument ist) und schrieb: „die Migration wird die ethnische Umgestaltung der europäischen Länder, die unvorstellbare Änderung der Sitten und des Benehmens, eine unaufhaltsame Hybridisierung der Menschen als Folge haben.“ Das sind warnende Worte, die wir nicht unterschätzen sollten.

Zu diesem Thema habe ich nicht nur Reden gehalten oder Aufsätze geschrieben. Zusammen mit meinem langfristigen Kollege Jiří Weigl haben wir ein Buch – mit dem Titel „Völkerwanderung“[3] – zu der heutigen Migrationskrise in Europa zusammengefasst. Dieses Buch steht in der heutigen Ideenschlacht völlig an der Seite der Freiheit und nicht an der Seite des Moralismus, der Manipulation und des linken Etatismus.

Dieses kleine und kurze Buch können Sie auch hier bekommen. Das Buch in der flämischen Sprache habe ich gestern in Brüssel präsentiert. Es wird auch bald auf Französisch, Italienisch, Schwedisch, Russisch und Serbisch herausgegeben werden.

Wie erwartet, waren die Reaktionen der deutschen Hauptmedien – Die Welt, FAZ – nach der Präsentation des Buches am Anfang Juni in Berlin sehr kritisch, aber die kleineren Medien und besonders die Leser sehen es – zum Glück – anders. Das ist die Hoffnung für die Zukunft.

Die Hauptbotschaft des Buches ist klar, direkt und unmittelbar: die heutige Massenmigration, und ihre weitgehende negative Konsequenzen für die Zukunft der europäischen Gesellschaft, haben nicht die Migranten, sondern die europäischen Politiker – an der Spitze mit deutschen Politikern – verursacht. Gerade das muss man, besonders hier in Deutschland, laut sagen.

Ich weiß, dass dieser Satz ein politisch sehr unkorrektes Statement darstellt – zum Glück ist er mehr unkorrekt in Ihrem Land als in meinem. Ihre Bundeskanzlerin wurde mit ihren politisch korrekten Ideen vor zwei Monaten in Prag nicht positiv empfangen. Die Behörden waren nicht imstande, die Proteste der Demonstranten totzuschweigen. Auch manche wichtige Politiker haben Ihre Kritik ganz laut und deutlich geäußert. Sie hat die Proteste – wie immer und genauso wie zu Hause – überhört.

Viele von uns wissen, dass das Problem der heutigen Zeit nicht das Mitleid, Barmherzigkeit und Solidarität, oder Gleichgültigkeit, Egoismus und die uralte Kleinbürgerei ist. Das heutige Thema ist unsere Zukunft.

Die Mehrheit der europäischen und besonders deutschen Spitzenpolitiker will es nicht akzeptieren.  Mit ihrem Glauben an die durchaus wohltuenden Effekte der unbegrenzten Verschiedenheit der Menschen für eine zusammenlebende Volksgemeinschaft und mit ihrem Glauben an die vollkommen positiven und bereichernden Einwirkungen der Migranten, ihrer Ideen, ihrer Religion, ihrer Benehmensmuster haben sie die Migranten schon seit langer Zeit implizit, aber in der letzten Ära auch explizit eingeladen. Nur deshalb sind die Migranten da.

Diese Politiker glauben wahrscheinlich aufrichtig an die Ideologie des Multikulturalismus, was aber schwer zu begreifen ist. Wollen sie wirklich aus den heutigen Migranten einen neuen europäischen Menschen, einen homo bruxelarum, erschaffen? Ich habe Angst, dass es leider so ist.

Die heutige Massenmigration, die ich – glaube ich berechtigt – Völkerwanderung nenne, habe ich schon lange Zeit als Bedrohung der europäischen Zivilisation und Kultur, als Bedrohung der Freiheit und Demokratie, und nicht an der letzten Stelle als Bedrohung der europäischen Prosperität bezeichnet.

Ich habe es als eine gefährliche Beschädigung unseres Lebens, unserer Lebensqualität, unserer Traditionen und Gewohnheiten betrachtet. Das finde ich das Wichtigste und Gefährlichste. Deshalb habe ich nie die einfache und billige Karte des Kampfes mit Terrorismus gespielt. Damit wollte ich sagen, dass ich das heutige Problem Europas nie auf dieses Thema reduziert habe. Ich dachte immer – und denke auch heute noch – dass die Fortsetzung der Massenmigration anderer Kulturen und Zivilisationen Europa auch ohne Terrorismus vernichten wird.

Wie ich sagte, diesen Aspekt der Argumentation habe ich in der Vergangenheit nicht akzentuiert oder nach vorne gestellt. Ich habe es als ein bisschen trivial gefunden. Die Erfahrungen der letzten Monate haben es aber geändert. Jetzt ist es klar und evident – leider nicht für Ihre Bundeskanzlerin – dass die heutige Terrorismuswelle ein unvermeidlicher und unbegehbarer Bestandteil der Massenmigration ist.

Die heutige Terrorismuswelle kann – hoffentlich – auch den Menschen, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten nicht befassen, ihre Augen öffnen. Die unglaublichen und schreckerregenden menschlichen Tragödien, die uns fast täglich die Medien bringen, werden – ich muss das Wort hoffentlich wiederholen – zu der massiven Augenöffnung der „schweigenden Mehrheit“ der europäischen Bevölkerung beitragen. Sonst gibt es keine Zukunft vor uns.

[1] Klaus, V., „Komparative Analyse der Transformation im Multavialand und Albisland“, Rede bei der Verleihung des Ehrendoktorates der Wirtschaftswissenschaften, Technische Universität Dresden, 23. Februar 2007.

[2] Klaus, V., Blauer Planet in grünen Fesseln. Was ist bedroht: Klima oder Freiheit?, Carl Gerold’s Sohn Verlag, Wien, 2007.

[3] Klaus, V., Weigl, J., Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Berlin, 2016.

Václav Klaus, WortReich und Manuscriptum, Quality Hotel Plaza, Dresden, 19. Oktober, 2016.